Doku-Abschluss in Triest – Oder: der Plan B

20/10/21 | ExPEERience, Forschung, Reportagen | 0 commenti

„Der Ort strahlt so viel Ruhe aus“, sagt Fine und schaut aus dem weiten Panorama-Fenster auf die massiven Berge. Mit festem Schnee bedeckte Wiesen, Felsvorsprünge und immer wieder Ziegen, die in Herden die steilen Hänge hinunter rennen. Während draußen ein eisiger Wind weht, haben sich die TeilnehmerInnen an die Tische im warmen Aufenthaltsraum zurückgezogen. Vor ihnen stehen leere Tassen mit Resten vom Mousse au chocolat, ein paar Handys lehnen auf den Fenstersimsen, um das bisschen mobile Netz einzufangen, in der Küche knistert das Feuer im Beistellherd. Die Jugendlichen sitzen in Gruppen und brainstormen über ihre Geschichten. Was gibt es von diesem Ort zu erzählen? Wie will man hier eine Geschichte finden? Was ist das Herz der Geschichte? Was ist der Konflikt? Wie findet man Fotomotive? Und welche Tools soll man verwenden – Text, Fotos, Videos? Ideen überschlagen sich, Impulse fließen, Stifte gleiten über die Zettel, um erste Beobachtungen und Szenen festzuhalten.

Es ist das Pfingstwochenende im Mai 2021 und das erste Mal seit einer gefühlten Ewigkeit, dass das Doku-Team mal wieder außerhalb von Videokonferenzen zusammenkommt. 15 Mädchen und Jungen nehmen in diesem Jahr als Peers im zweiten Level am Projekt teil, elf sind mit auf die Abschluss-Reise gekommen, die in diesem Jahr in Triest stattfinden sollte. Menschen kennenlernen aus der slowenischen Minderheit, Geschichten schreiben über eine Theater-Gruppe, die keine Grenzen kennt, sich durch die Stadt führen lassen von einer slowenischen Journalistin, die in der Stadt mit dem schönsten Licht lebt. Alles war schon vorbereitet, die Vorfreude groß. Mehr lernen über Menschen, die so nah und doch so ferne Realitäten leben. Mehr lernen über eine andere Minderheit und ihre Sorgen, Ängste, Hoffnungen. Mehr lernen über eine Region, die wie Südtirol, ethnisch viel zu erzählen hat. Triest. Eigentlich. Dann kam alles anders.

Eine neue Verordnung des Landes, in der steht: Jugendgruppen dürfen nur innerhalb der Region reisen – Das war’s also mit Triest. Mit der Verordnung kommen neue Pläne und mit den neuen Plänen eine neue Enttäuschung. Schon wieder ein Plan B, schon wieder umdisponieren. Es ist wie ein Credo, das sich seit beinahe eineinhalb Jahren durch die Leben der Menschen und insbesondere der Jugendlichen zieht. Doch der Plan B ist schnell gefasst und so machen sich elf Jugendliche und drei LeiterInnen auf ins Passeiertal zur auf 1700 Metern liegenden Berghütte Egghof Kaser, um nicht nur die Abschluss-Projekte auszuarbeiten, sondern auch all die Enttäuschung und Wut zurückzulassen.

Mit einer Hand hält sich Sara am Ärmel von Valentinas Jacke fest. Ihre Augen sind geschlossen, der Wind weht durch ihre blonden Haare, die sie zum Zopf zusammengebunden hat. Schritt für Schritt führt Valentina sie den Berg hinauf. Sie ist heute ihr Fotoapparat – eine Übung, die den Foto-Blick der Jugendlichen schulen und sie als Gruppe besser kennenlernen soll. „Hier“, sagt Valentina, dreht Sara ein wenig nach links, führt ihr die Kamera ans Gesicht und lässt sie ein Bild von der Hütte machen, die für die nächsten zweieinhalb Tage zuhause sein wird. 20 Meter weiter unten zieht Lena Lea ein Stück weiter zum Zaun. Die Suche nach dem passenden Motiv ist gar nicht so leicht und auch Vertrauen in die Menschen, die man teilweise nur aus den Online-Workshops kennt, braucht Zeit zum Wachsen.

Seit sechs Monaten arbeiten die Jugendlichen im Abstand von mehreren Wochen in Online-Workshops an ihren Dokumentations-Fähigkeiten. Auf was sie beim Fotografieren achten können, wie sie die richtigen Motive, die besten Lichtverhältnisse auswählen. Wie sie Szenen in Reportagen schreiben und den Konflikt in einer Geschichte finden. Mal allein, mal zu zweit, mal zu viert haben sie sich in vielen Übungen auf Triest vorbereitet, um als Abschluss einen Reiseblog zu erstellen. Jetzt weht statt der Meerbrise ein eisiger Wind und von der slowenischen Minderheit mit all ihren Geschichten ist weit und breit nichts zu sehen.

Zurück in der Hütte gibt es die Aufgabe für die nächsten zwei Tage, die für die Jugendlichen des Doku-Teams die letzte in diesem Jahr sein wird und so ganz anders ist, als sie sich erwartet haben.

Es gab einen Plan, eine Story, eine Idee. Es gab Erwartungen, Wünsche, Vorfreude. Doch Pläne können scheitern. Ideen, Recherchen, Geschichten können scheitern. Und zurück bleibt die Enttäuschung. Doch was machen wir daraus? Nehmen wir sie hin wie all die anderen abgesagten Pläne und ziehen uns zurück? Oder lassen wir sie heraus, die Emotionen, die Wünsche, die Vorstellungen? Verordnungen hin oder her – jetzt sind wir hier, in der Natur auf uns selbst zurückgeworfen finden wir die Geschichte im Scheitern und nutzen das, was uns gegeben wurde – den Plan B.

Warum bin ich an diesem Ort? Was macht er mit mir?

Was macht der Plan B mit mir?

Wie kann ich Gefühle und Gedanken ausdrücken und sie als Geschichte verpacken?

Welche Geschichte von hier ist überhaupt erzählenswert und welche sollen andere erfahren?

Und wie kann ich die Natur nutzen, um eine Geschichte zu erzählen?

Mit vielen Fragen machen sich die Jugendlichen in 3er- und 4er-Gruppen an die Arbeit. Der Auftrag ist frei, im Zentrum stehen die eigenen Emotionen, Tiefgang und Struktur in ihre Reportage zu bringen und Erlerntes aus den Workshops anzuwenden. Den Konflikt zu finden, Szenen zu erzählen, mit den Geschichten zu berühren.

X